Roman Synapsen Pogo
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Synapsen Pogo - LESEPROBE 3

☆ Seite 267-271 ☆

Ich fuhr mit Mama zum Supermarkt. Das war ein riesiges, metroartiges Ding, das sie mitten in die Prärie geknallt hatten, mit Parkplätzen groß wie Fußballfelder, Getränkemarkt dahinter und Autozubehör gegenüber. Hier gab’s alles, was der Durchschnittskonsument so brauchte. Wenn man keine großen Ansprüche hatte, konnte man ein Leben lang mit diesen drei Shops klarkommen. Ich fand diese riesigen Teile ganz cool, aber dennoch zweifelhaft, schließlich waren sie für den Bankrott des Einzelhandels verantwortlich.
Mama kannte sich hier bestens aus. Außerdem versprach ein Einkauf Abwechslung, raus aus der Einsamkeit ihrer kleinen Wohnung. Während ich noch den Einkaufswagen holte, war sie mit ihrem Rollator, Modell Troja, mit Stoffsitz, Netzkorb, Kantenabweiser und Ankipphilfe, vorausgestürmt. Dass die Gummireifen nicht qualmten, war alles. Sie beauftragte mich mit der Besorgung diverser Produkte, fegte in der Zwischenzeit selbst durch die Gänge, die Ware kritisch inspizierend. Festkochende Kartoffeln, Erbsen und Möhrchen und Wildlachs in Sahnesauce. Darin hatte ein namhaftes Institut zwar mal Wurmlarven gefunden, aber Mama zeigte sich unbeeindruckt, sie fand ihn halt lecker. Nur beim Senioren-Suppentopf, da verstand sie keinen Spaß. Es gab nur eine Sorte, die sie tolerierte, die Kartoffel-Lauch-Suppe. Alle anderen taugten nichts. Seit sie selber nicht mehr richtig kochen konnte, war es sowieso problematisch. Sie hatte Parkinson und ihre Hände zitterten so stark, dass sie nichts mehr geschält oder geschnitten bekam. Außerdem konnte sie nichts Schweres mehr heben. Mit allen Mitteln versuchte sie, das vermeintlich miserable Essen auf Rädern zu vermeiden. Deshalb die Fertigprodukte.
Ich führte ihre Aufträge aus und immer wenn ich was gefunden hatte und zu ihr zurück wollte, war sie verschwunden. Ständig suchte ich sie. Nach einer Weile nervte das, aber ich hatte auch keine andere Idee, logistisch gesehen. Mal fand ich sie zwischen den Konserven, mal beim Obst. Mama probierte Weintrauben, wollte erst mal die Qualität testen. Unbeirrt schob sie sich die sechste, dann die siebte Traube in den Mund, denn ohne zu kosten wäre ein Kauf ja wohl sinnlos, wie sie fand.
Als wir bezahlt hatten, verfrachtete ich Einkäufe und Mama ins Auto und ging noch rüber zum Getränkemarkt. Fünf Kisten Wasser. Damit kam meine kleine, alte Mutter gerade mal zwei Wochen aus. Die Anweisung des Arztes, „die Nieren müssen gut durchgespült werden“, nahm sie sehr ernst. Wenn der Volvo nicht so einen großen Kofferraum gehabt hätte, wäre es platztechnisch kritisch geworden. Aber ich bekam auch noch das Mineralwasser rein. Dann war alles erledigt, Feierabend.
Es war inzwischen Mittag geworden und ich wollte Mama zum Essen einladen, freute mich auf Sauerländer Hausmannskost. Beim Gedanken an Rinderrouladen, Klöße und Rotkohl lief mir schon das Wasser im Mund zusammen. Aufgrund des Überflusses an exotischem Essen in der Großstadt freute ich mich auf ein bodenständiges Gericht aus der Provinz. Aber weit gefehlt, Mama wollte chinesisch. Mit siebenundsechzig hatte sie die Ente nach Art des Hauses im Shanghai entdeckt und flog total auf die würzige Soße, die fand sie hammergeil. Glutamat? Kannte Mama nicht und interessierte sie auch nicht.
Alle meine Einwände wurden abgelehnt, da konnte man nichts machen. Also fuhren wir zum Chinarestaurant Shanghai, das ich bis dato noch nicht kannte. Ich wurde positiv überrascht, Eins-A-Lage und imposantes Buffet. Wir wählten einen freien Tisch an dem riesigen Panorama-Fenster, von dem aus man einen fantastischen Blick auf den See hatte. Als zusätzliches Plus war der mongolische Grill zu erwähnen, der neben den ganzen Standards auch eine Vielzahl an Fleisch- und Fischsorten mit diversen Gemüsen offerierte. Nachdem ich Mama hinter den Tisch geklemmt hatte, ging ich zum Buffet und besorgte ihr die Ente. Viel Fleisch mit Soße, wenig Reis und Gemüse, so meine Instruktionen. Mir gönnte ich zum Auftakt eine Fischflossensuppe mit Dongu-Pilzen. Diese war ein Traum, sowohl der Fisch als auch die Pilze, die Brühe mit etwas Zitrone verfeinert, weder zu wässrig noch zu penetrant.
Mama schmeckte es ebenfalls. Jetzt, im fortgeschrittenen Alter, fing sie an leise zu schmatzen. Ich begab mich zum gekühlten Teil des Buffets mit den frischen Rohwaren. Dort sammelte ich etwas Känguru, Sepia und Kaninchen ein und brachte es zusammen mit einer Handvoll Algen und Gemüse zum mongolischen Grill. Ein freundlich lächelnder Mann nahm meine Auswahl entgegen, die ich später fertig gegrillt und mit der Soße meiner Wahl an den Tisch serviert bekam.
Mama war schwer beschäftigt und knuspelte konzentriert an ihrer Ente. Ich trank ein erfrischendes Pils und beobachtete sie. Meine Güte, sie war wirklich alt geworden. Klein und gebeugt hockte sie über ihrem Teller. Sie wurde immer winziger und tat mir irgendwie leid. Geistig war sie noch ganz rege, aber ihre Körperfunktionen ließen nach. Was mir Angst machte, war die Tatsache, dass alles ziemlich schnell geschah und sie es so bewusst mitbekam. Sie sah auf, blickte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Oft war sie streng, aber manchmal versprühte sie eine geradezu kindliche Naivität, die ich sehr süß fand.
„Wo bleibt dein Essen, Martin?“
„Das ist noch hinten auf dem Grill.“
„Ja, wirklich? Dann iss doch schon mal was anderes, du hast doch bestimmt Hunger, Junge.“
„Ich kann’s aushalten, Mama.“
„So ein Süppchen ist doch nichts für einen hungrigen Mann.“
„Ich bekomm doch gleich noch was.“
Genug zu essen zu haben war sehr wichtig, es bedeutete für die ältere Generation nicht nur Wohlstand, sondern einfach auch die Abwesenheit von Krieg. Das saß tief, das wurden die Alten nicht mehr los.
Der Teller vom mongolischen Grill kam. Mama kam die Mixtur aus verschiedenen Fleisch- und Fischsorten spanisch vor, sie wollte immer nur Ente. Danach Obst. Alles schmeckte super, ich war rundum zufrieden und wollte zahlen. Mama blickte suchend in die Runde, anscheinend war sie kulinarisch noch nicht ganz befriedigt. Als sie den Schokoladenbrunnen entdeckte, bekam ich noch mal einen Auftrag: „Ach Martin, die Schokolade sieht aber lecker aus. Vielleicht gibt es Eis, das würde gut dazu passen.“
„Gibt es, hab ich schon gesehen. Wie viele Kugeln willst du, zwei?“
„Drei, und spar nicht mit der Schokolade.“
„Du weißt, dass das nicht gesund ist, oder? Denk an deinen Blutdruck.“
„Ach was, heute machen wir mal eine Ausnahme.“
Ich seufzte, stand auf und besorgte ihr das Eis, das geradezu in Schokolade schwamm. Auch diese Portion wurde zu hundert Prozent getilgt. Amüsiert fragte ich mich, wo sie das alles hinsteckte. Danach konnte ich endlich die Rechnung kommen lassen.
Zu Hause sortierte ich ihre Einkäufe in den Kühlschrank und brachte die Wasserkästen in den Keller. Mama saß schon im Wohnzimmer und wartete darauf, dass ich kam und die Karten mischte, damit wir ihr Lieblingsspiel, Skip-Bo, endlich starten konnten.
„Martin, wo bleibst du denn so lange?“
„Ich muss nur noch auf Klo.“
„Gott, Junge, dauernd rennst du auf Toilette, hast du was?“
„Nein, Mama, was soll ich denn haben?“
„Na, irgendwas mit dem Magen. So oft, das ist doch nicht normal.“
Dann wurde Skip-Bo gespielt. Sie passte auf wie ein Luchs, kritisierte ständig meine Spielweise und unterstellte mir Betrug. Solange sie verlor, musste weitergespielt werden, bis sich das Blatt wendete, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich ließ mich ein- bis zweimal überreden, aber spätestens nach der dritten Runde machte ich mich auf, um nach Hause zu fahren. Dann wurde sie sentimental, tat überrascht und fragte:
„Jetzt schon? Bleib doch noch ein bisschen.“
Sie stand im Flur, leicht gebückt, und sah zu, wie ich meine Utensilien ordnete.
Meistens fragte sie „Hast du neue Schuhe?“ oder „Ist die Jacke neu?“ und riet mir: „Fahr bloß vorsichtig, Junge, man hört ja so viel. Und ruf mich an, wenn du gut angekommen bist“. Ich küsste sie auf die Wange, sie roch immer so lecker.

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